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Der Gott der kleine Dinge - Arundhati Roy

Eine indische Ouvertüre in Moll


Es begann mit einem Stapel aussortierter Bücher meiner Oma. 

 

Unfassbar! 

 

Beinahe wäre dieses kleine Taschenbuch mit dem unscheinbaren Cover im Papiermüll gelandet. Allein der Titel rettete es in meinen Bücherschrank, wo es fast zwei Jahre auf seine Entdeckung wartete.

 

Ich war 18 Jahre alt, als ich es schließlich wieder in die Hand nahm, einzig um die Wartezeit auf einen neuen Harry-Potter-Band zu überbrücken. Da war der Roman bereits 5 Jahre alt und seine Schöpferin, die 1961 im indischen Shillong geborene Arundhati Roy, mit dem Booker Prize ausgezeichnet und international bekannt. „Der Gott der kleinen Dinge“, so der Titel des Buches, fand mich in einer ganz besonderen Zeit meines Lebens. Dem Kindesalter schon längst entwachsen, gefangen zwischen der Planlosigkeit eines Teenagers und den Zukunftssorgen, die junge Erwachsene umtreiben.

 

Es war nicht in erster Linie der Inhalt des Buches, als vielmehr die Sprache, der sich die Autorin bedient, die mein Interesse an der Literatur in ganz neue Bahnen lenkte. Sie ist voller Allegorien und einer ganz eigenen Magie, manchmal rührend gefühlvoll und dann wieder verstörend und vulgär. Ich habe mich in die Sprache dieses Buches verliebt, aber es hat mich auch gefordert. Denn die Erzählung folgt keinem Anfang. Sie beginnt vielmehr am Ende, um sich dann in schier unendlichen Wechseln der Erzählperspektive und Zeit, um ein zentrales Ereignis herum zu verdichten, einer Katastrophe, die eine ganze Familie ins Unglück stürzt. 

 

 

Es ist die Geschichte der Zwillinge Estha und Rahel, geboren in einer gutbürgerlichen christlichen Familie in der indischen Provinz, ihrer Mutter Ammu, einer bei ihrer Familie in Ungnade gefallenen geschiedenen Frau und Velutha, einem Unberührbaren, der nichts weiter verbrochen hat, als Ammus Geliebter, ihr persönlicher „Gott der kleinen Dinge“ und Estha und Rahel ein väterlicher Freund zu sein. Die großen Dinge in diesem Roman: das sind die politischen Verhältnisse im Indien der 60er Jahre, Religion, Kommunismus, Kapitalismus und ein Gesellschaftssystem, das ihre Mitglieder in Kasten einteilt und über die öffentliche Ordnung genauso bestimmt wie über

"die Gesetze der Liebe. Die festlegten, wer geliebt werden durfte. Und wie. Und wie sehr."

Es ist kein fröhliches Buch. Es ist eine große Geschichte über Unglück, Schuld und Verrat. Und doch sind es die kleinen Dinge, die mir nach häufiger Lektüre im Gedächtnis bleiben. Einzelne Passagen, Sätze, Bilder die sich tief eingebrannt haben und mich immer begleiten.

"Der Gott der kleinen Dinge‘ hinterlässt keine Spuren im Sand, keine Wellen im Wasser, kein Abbild im Spiegel. Er ist der Gott dessen, was verloren geht, der persönlichen und alltäglichen Dinge, nicht der Gott der Geschichte, die die ‚kleinen Dinge‘ grausam in ihren Lauf zwingt … und: Die Dinge können sich an einem einzigen Tag verändern."

Auch wenn das kleine Ding nur ein unscheinbares Taschenbuch ist, das sich unverhofft in die Hände eines willigen Lesers verirrt.




Titel: Der Gott der kleinen Dinge

Autorin: Arundhati Roy

Originaltitel: The God of the Small Things

Aus dem Englischen übertragen von Annette Grube

Erschienen im Fischer-Verlag, 1997

ISBN: 978-3-597-29952-2

Die Urheberrechte und das Copyright an dem Buchcover liegen beim Fischer-Verlag

Bei den hervorgehobenen Textpassagen handelt es sich um Zitate aus dem besprochenen Werk.

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